Mein Alltag in der Wortwolke

Alle, die jemals einen Deutschkurs besucht haben, erinnern sich sicherlich noch an die netten „Wortwolken“, Visualisierungen zu einem Wortfeld, flächig angezeigt, wobei unterschiedlich gewichtete Wörter größer, kleiner, fetter, mittig, links oder rechts, oben oder unten, hervorgehoben oder in den Hintergrund verbannt, oft in unterschiedlichen Farben präsentiert wurden. Das sprachliche Repertoire zu einem Thema war so fast auf einen Blick erfassbar, auf den ersten die exponierten, auf den zweiten, oft auch dritten oder x-ten Blick die weniger hervorgehobenen Wörter. Warum diese Präsentationsform? Nun, ich denke, motivierend soll es wirken, Spaß am Erlernen eines neuen Wortschatzes hervorrufen.

Neuer Wortschatz, oder besser: neue Wortschöpfungen begegnen uns zurzeit zuhauf, sei es in Printmedien, Talkshows, Statements von Politikern, beim Einkauf im Supermarkt, in der Werbung zu unterschiedlichsten Dienstleistungsangeboten. Sitze ich frühmorgens bei einer Tasse Kaffee zeitungslesend und mit noch relativ guter Laune im Bett, so springt mich die heiter beschwingte Radiowerbung diverser Anbieter an wie ein Tiger, dem es egal ist, ob ich den Angriff überlebe, Hauptsache er hat sein Plaisir.

Veränderte Zeiten, veränderte Sprache: Sprache als Wirkungsmacht, Manipulation, Emotionalisierung, Aufklärung, und vieles mehr, vielfach und eindrücklich beschrieben in verschiedensten theoretischen Ansätzen, allgemein bekannt unter dem Terminus „Framing“.
Lasse ich mich nun ernsthaft auf das derzeit allumfassende Phänomen sprachlicher Schöpfungsketten (ob es ein Wert ist, da bin ich mir noch nicht so sicher) ein, so sehe ich viele Wolken am Horizont, zusätzlich zu meiner verständlicherweise eher bewölkten Stimmungslage droht mich geradezu ein Gewitterwolkensturm zu erschlagen.

Um ein wenig Ordnung in das entstandene sprachliche Chaos zu bringen, habe ich mich daran begeben, meine viele, sehr viele, fast zu viele Freizeit damit sinnstiftend zu füllen, mich mit dem expandierenden „Wortschatz“ zur Beschreibung von Corona – Phänomen zu befassen.
Dies mit wissenschaftlicher Verve, Betroffenheitsgestus, Ernsthaftigkeit, aber auch viel Belustigung und dem Wunsch, zu begreifen, was da gerade in sprachlicher Hinsicht so abgeht.

Bevor ich versuche, für mich den Gegenstand meines Interesses zu ordnen und zu analysieren, um ihn anschließend zu präsentieren, fange ich mal damit an, euch einen Einblick in mein Privatleben zu geben, bemüht um Authentizität und Vermittlung dessen, um was es mir gerade geht. Natürlich zeitadäquat mit Corona-Wörtern.

Toilettenpapier Fussball

Fussball-Toilettenpapier

95% meiner Zeit lebe ich im Cocooning, zurückgezogen in mein privates Umfeld, die auf gemütlich getrimmte, coronafreie Wohnung inklusive uncoranösem Balkonien und, ich hoffe, dass es so bleibt, einem Ehemann, der kein Superspreader ist. Im Großen und Ganzen sind wir zum Glück gesund, physisch coronafrei, psychisch wohl eher nicht. Ab und zu husten wir, aber wir sind keine Corona-Huster und haben weder Schnotten– noch Schniefscham. Unter Flugscham zu leiden, wurde uns erspart, einen Lagerkoller haben wir noch nicht, Spuckwände ebenso wenig, wir mussten nicht in Quarantäne oder freiwillige Selbstisolation. Wie gesagt, einen Homeoffice-Koller habe ich noch nicht, dafür aber Klopapier mit Fußballmotiven drauf, so kann man sich wenigstens auf dem Klo das Papier anschauen und Tor schreien, wo es schon keine Geisterspiele mehr gibt. Klopapierrollen liegen auf meinem Kleiderschrank allerdings nur in überschaubaren Maßen (nicht Massen!), zu Hamsterkäufen ließ ich mich dank meiner guten, glücklicherweise nicht-covidierten Erziehung nicht hinreißen. Ein Corona-Tagebuch führe ich nicht, Tagebuchschreiben war noch nie meine Sache, bis auf das Poesiealbum in frühester Mädchenzeit: „In allem, was du denkst, sei klar, in allem, was du sprichst, sei wahr, in allem was du bist, sei du, dann lächelt auch das Glück dir zu.“ Schön, nicht wahr!?

Eine Corona Conny oder einen Corona Kevin brauche ich nicht zu fürchten, da nicht mehr im gebährfähigen, sprich: systemrelevanten Alter bin, eher wohl einer Risikogruppe zugehöre, was den nicht zu unterschätzenden Vorteil hat, dass ich in einer zur Vorsicht mahnenden Zeit, wie wir sie jetzt gerade erleben, zumindest beim Corona-Sex nicht auf Verhütung achten muss, ausverkaufte oder überteuerte Kondome sind für mich nicht von privater Systemrelevanz. Allerdings steht in Kürze ein Corona-Geburtstag an. Mit Corona-Abitur und Homeschooling habe ich zum Glück auch nichts zu tun, allerdings tue ich alles Mögliche, um mich in Hometeaching einzuarbeiten.

Mein Küchentisch ist mein Homeoffice, Webinare und Tutorials sind Frühstück, Mittagessen und Abendbrot in einem, zum Dessert gibt’s Klopapierrollentorte: mich zur Tortenprepperin zu entwickeln, liegt meinem Naturell näher, als als Klopapierprepperin zu

entgleisen, aber das sagte ich ja bereits, dass Mutti und Vati mich zu rücksichtsvollem Verhalten erzogen haben. Das Fitnessstudio ist coronabedingt geschlossen, fit halten will ich mich auf jeden Fall und das mit: Home Gym, Balkonien-Workout, uncoronösem Yoga und Outdoor-Jogging im Eineinhalbmeterstadtpark, natürlich das Social Distancing als ständiger Begleiter. Dies ist aber doch nicht so sozial gedistanced, da sich alle Leute, auf die man trifft, viel sozialer, freundlich grüßend, nett lächelnd, insgesamt zugewandter verhalten als zuvor, obwohl man immer einen großen Bogen umeinander macht. Physical Distance ist angesagt, und das zurecht. Flatten the Curve sieht bei mir so aus, dass ich mir täglich mit Sorge, aber auch Galgenhumor die Excel -Tabelle mit meinen sich stetig vermehrenden Corona-Kilos betrachte.

Bin ich ein Maskenmuffel, bin ich gegen Maulkorbpflicht? Nein, obwohl ich mir ungern den Mund verbieten lasse, bissig sein kann und zuweilen den Mund ein bisschen zu voll nehme.

Als Brillenträgerin bereitet mir die Coronaschutzmaske allerdings Unannehmlichkeiten. Da habe ich schon lieber die Anti-Age-Maske auf der Haut oder im Karneval die rote Clownsnase. Die Maske wird jetzt mit Wasser entfernt, da ich wie gesagt, keine Zellstoffhamsterin bin.

Corona Bier

Corona Bier

Noch habe ich mich auf keiner Corona-Party vergnügt, jedoch aus Neugier ein Corona-Bier getrunken, noch keine Corona-Pizza mit Extra Prepperoni gegessen, allerdings viel Vitamine, Ingwer, Knoblauch wegen der Corona-Resilienz. Ein Vorteil bei dem Ganzen: stinken kann man ja in trauter Zweisamkeit, gemeinsam stinken hält besser! Das war früher, im Real-Life, im non-virtuellen Klassenraum verständlicherweise nicht erwünscht. Balkonkonzerte gebe ich nicht, dann würden alle Nachbarn verzweifelt die Physical Distance suchen.

Ich bin keine Rassistin: Colonialzeit, China– oder Ausländervirus gehören nicht zu meinem aktiven Sprachschatz. Meine Corona-Challenge sieht so aus, dass ich mich in möglichst kurzer Zeit möglichst intensiv und umfangreich in den Orkus der Virtuel Reality einarbeiten will, was aber nicht heißt, dass ich auf YouTube zur Influencerin in Hinsicht auf Corona-Frisuren oder die Gestaltung von Corona-adäquaten-Birthday-Partys werden will. Ich bin keine Helikopternachbarin: was meine Nachbarn tun und lassen, tangiert mich nicht, solange sie nicht mit verschnieften Fingern die Haustürklinke anfassen oder den Aufzugspiegel anniesen, Tröpfen– oder Schmierinfektion möchte ich tunlichst aus dem Wege gehen, denn: all diese Gefährdungen kann ich nicht sehen und deshalb bemühe ich mich immer, nicht-private Türklinken oder Geldautomatentasten mit einem Taschentuch oder dem Jackenärmel zu berühren. Bin ich jetzt schon eine Corona-Idiotin oder gar eine Corona-Neurotikerin, oder werde ich bald dazu, das ist die Frage am Ende meines Alltagsberichts. Im folgenden Beitrag geht’s dann um aktuelle Dokumentationen der neuen Begrifflichkeiten wie auch der altbekannten im neuen Gewand.

 

Fortsetzung folgt …

 

CC BY-NC-ND 4.0 Sprache in Zeiten von Corona | Teil 1 von Dr. Barbara Kling ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 4.0 international.