Im Vortragssaal  der Stadtbibliothek Bielefeld fand am 11.02.2015 eine beeindruckende Veranstaltung des Kuratoriums Städtepartnerschaft Bielefeld – Welikij Nowgorod e.V. statt.

Der russische Schriftsteller und Journalist Sergej Lebedew  las aus seinem Roman Der Himmel auf ihren Schultern (2013)1)Lebedew, S. (2013), Der Himmel auf ihren Schultern, Frankfurt a.M. – (russ: Predel zabvenija  (2011).  Brunhild Hilf, Vorsitzende des Kuratoriums, führte thematisch in die Veranstaltung ein. Inna Herzog-Vahle übersetzte die sich an die Lesung anschließenden Gesprächsbeiträge. Eindrucksvolle Auszüge aus dem Roman las die Bielefelder Schauspielerin Christine Ruis in deutscher Übersetzung.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die deutsche Übersetzung des Romantitels eine nicht zu vernachlässigende inhaltliche Schwerpunktverschiebung nach sich zieht: Die wörtliche Übersetzung des russischen Buchtitels lautet Die Grenze des Vergessens; der deutsche Titel Der Himmel auf ihren Schultern gründet auf einem Zitat aus dem Roman selbst. Stellt der russische Titel das Thema der Erinnerungskultur und Geschichtsverleugnung – das offiziell gewollteVerschwinden der Erinnerung an die sowjetischen Straflager aus dem gegenwärtigen Bewusstsein – metaphorisch in den Mittelpunkt, so legt der Titel der deutschen Ausgabe die Betonung auf den Leidensweg der Opfer des Lagersystems selbst.

Der in der Lesung vorgestellte Roman und die sich daran anschließende Diskussion regten mich an, seinen Inhalt und seine Hintergründe näher zu betrachten:

Sergej Lebedew wurde 1981 in Moskau geboren. Er entstammt einer sowjetischen Geologenfamilie. Seine Eltern berichteten ihm davon, dass sie in Jakutien im Sommer Bären dabei beobachtet hätten, wie diese an einem Futternapf der besonderen Art fraßen: an einem Massengrab. Als Jugendlicher verdiente Lebedew Geld damit, in den geschlossenen sowjetischen Minen nach Bergkristallen und seltenen Mineralien zu suchen. Bei diesen Expeditionen in die Tundra stieß er auf Relikte sowjetischer Straflager. Diese ehemals im Zuge der systematischen Säuberungspolitik des Stalinismus entstandenen Zeugnisse des Gulag boten sich dar in Gestalt überwucherter, von der Natur schon fast wieder in Besitz genommener Ruinen. Auch später bereiste Lebedew als Reporter im Norden Russlands und Zentralasiens das „verrottende Erbe der Sowjetunion“2)Behring, S. (2013), Rezension/FAZ Russische Väter, russische Mütter (19.04.2013). Sergej Lebedew kämpft gegen Geschichtsvergessenheit, Web.  (zit. nach Rezensionen auf bücher.de



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, so Sabine Behring in ihrer Rezension Russische Väter, russische Mütter. Sergej Lebedew kämpft gegen Geschichtsvergessenheit in der FAZ vom 19.04.2013. Dabei stieß er immer wieder auf Überreste ehemaliger Lager (geographische Übersichtskarte des Gulag). Darüber hinaus sah Lebedew sich auch in der Lebensgeschichte seiner Familienangehörigen mit Spuren der stalinistischen Vergangenheit konfrontiert: der zweite Mann seiner Großmutter war Tschekist und wirkte als Gulag-Kommandant bei den stalinistischen Säuberungen mit. Lange nach dem Tod seines Stiefgroßvaters  – der leibliche war im Krieg gefallen – erfuhr Lebedew, dass diesem die zahlreichen Orden nicht für Verdienste im „Großen Vaterländischen Krieg“ verliehen worden waren, sondern vom NKWD für besondere Verdienste im Umgang mit Staatsfeinden. Neben den erschütternden Entdeckungen während seiner Reisen und den erwähnten familiären Verknüpfungen motivierte nicht zuletzt die unzureichende Auseinandersetzung der offiziellen sowjetischen/russischen Geschichtsschreibung mit dem Thema Stalinismus Lebedew dazu, dies alles in einem Roman zu thematisieren. Es ist sein erster Roman, er stand auf der Longlist des russischen Nazbest Preises 2011. Zuvor sind von ihm Gedichte, Essays und journalistische Texte veröffentlicht worden. 2013 war Lebedew Stipendiat am Literarischen Colloquium Berlin. Aktuell publiziert er auch in ostpol – Das Osteuropamagazin.

Cover - Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern

Cover – Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern

Die mangelhafte Aufarbeitung des unter Stalins Terrorherrschaft entstandenen Lagersystems ist eine der Leerstellen in der russischen/sowjetischen Geschichtsschreibung. Eine Auseinandersetzung damit findet nur in den Nischen der Gesellschaft statt. Hintergrundinformationen dazu und zu den Auswirkungen auf die Gegenwart finden sich in Stefan Plaggenborgs Artikel Geschönte Vergangenheit, der online am 20.10.2010 auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist.

In der Euphorie der Perestrojka, meint der 1981 in Moskau geborene Schriftsteller Sergej Lebedew, hätten seine Landsleute naiv geglaubt, man müsse die Wahrheit über den GULag und die anderen Verbrechen der Stalinzeit nur herausschreien, und die dunkle Vergangenheit sei vergangen.3)Ebd.

Behring macht in ihrer Rezension auch darauf aufmerksam, dass im hohen Norden und Fernen Osten Russlands Geologen und Hobby-Archäologen immer wieder auf grausame historische Relikte stießen:

In den Böden des Permafrostes wollen die Leichen der einstigen GULag-Sträflinge und Zwangsdeportierten einfach nicht verwesen, als wollten sich die Opfer damit ein Denkmal ertrotzen, das ihnen der russische Staat bis heute verwehrt.4)Ebd.

Nach dem Erscheinen des Buches in Russland hätten sich viele junge Leute an ihn gewandt, so Lebedew im Gespräch mit Behringer. Sie alle hätten ähnliche Erfahrungen mit dem unheilvollen Schweigen in ihren Familien gemacht. Dass sich die Russen so schwer mit der Verantwortung für und der Erinnerung an die Verbrechen täten, hänge für ihn damit zusammen, dass diese Greuel für die meisten irgendwo weit weg im geographischen Niemandsland geschahen. Zwar gebe es von Aktivisten organisierte Gedenkstätten, doch wer führe Tausende von Kilometern an die Kolyma oder nach Workuta, um sich die Überreste eines Lagers anzusehen.

Das stalinistische Lagersystem hatte im gesellschaftlichen Kontext eine Doppelfunktion: zum einen diente es Stalins Herrschaftssicherung, zum anderen war es ein fest integrierter Bestandteil der sowjetischen Ökonomie. So beschreibt Ralf Stettner in seinem Buch Archipel GULAG«: Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant  : Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928-1954 (1996), welch enorme wirtschaftliche Bedeutung der Gulag innehatte und in welch hohem Grade Terror, Gulag und Wirtschaft miteinander verknüpft waren. So wären ohne die Lager Kanäle nicht gebaut worden, strategisch wichtige Straßen und Eisenbahnlinien, viele Städte, Kombinate, Fabriken und Flughäfen nie entstanden.5)Exemplarisch sei hier auf die Rezension des Buches durch Markus Werner in der FAZ vom 18.07.1997 verwiesen, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Aus der Literatur sind uns Alexander Solschenizyn (1918-2008) und Warlam Schalamow (1907-1982) als Chronisten des Gulag bekannt. Solschenizyn durch Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch (1962) und Der Archipel Gulag (1973), Schalamow durch seine Erzählungen aus Kolyma (verf. 1954-1970). In bis zu ihrem Erscheinen noch nie dagewesener Intensität wird hier Zeugnis abgelegt vom stalinistischen Massenterror und dem System der sowjetischen Arbeitslager.

Inna Herzog-Vahle und Sergej Lebedew während der Lesung aus dem russischen Original: "Predel zabvenija"

Inna Herzog-Vahle und Sergej Lebedew während der Lesung aus dem russischen Original: „Predel zabvenija“

Lebedew rollt dieses in der russischen Literatur seit Solschenizyn klassisch gewordene Thema aus einer  völlig neuartigen Perspektive auf – aus der Perspektive eines generationsübergreifenden Gedächtnisses, das die kurze Zeitpanne eines einzelnen Menschenlebens in den Hintergrund stellt. Dabei stellt er im Unterschied zu den beiden genannten Schriftstellern nicht das Martyrium der Opfer in den Vordergrund, sondern das Psychogramm eines greisen Täters, eines ehemaligen Lagerkommandanten, dem sogenannten zweiten Großvater des nachgeborenen Ich-Erzählers. Als Kind wird dieser durch den zweiten Großvater psychisch missbraucht, ohne das Machtspiel aus seiner kindlichen Perspektive durchschauen zu können. Noch im Erwachsenenalter leidet er an den traumatischen Auswirkungen, die die Zerstörung seiner sich gerade erst herausbildenden Individualität bewirkt hat. Der Ich-Erzähler begibt sich auf eine quälende Identitätssuche, die untrennbar verbunden ist mit der Aufdeckung der Vergangenheit des zweiten Großvaters. Ohne Überwindung des allseitigen Schweigens ist eine Enttraumatisierung des Individuums, aber auch der Gesellschaft, ebenso wenig möglich, wie eine positive Zukunftsgestaltung. Dabei ist der Weg des suchenden Ich-Erzählers gleichzeitig real und symbolisch: von den nur vagen Ahnungen zum Fokus der Vergangenheit, zum kulturellen Erbe, zu den Chimären des Kollektivgedächtnisses, um dann mit dieser Vergangenheit zusammenzuprallen, vorübergehend gar symbiotisch mit ihr zu verschmelzen, um sich daran anschließend paradoxerweise gerade mittels dieser Symbiose von der seelischen Last zu befreien. Diese inhaltliche Akzentuierung ist ein Novum in der zeitgenössischen Literatur Russlands, genauso wie Lebedevs Interesse an diesem Thema für einen Autor seiner Generation neu ist.

 

Dieser Protagonist, der zugleich der Erzähler ist, wird nun mit der Verpflichtung konfrontiert, dieses kulturell-historische, allgemeine Gedächtnis zu erwerben und es als sein persönliches anzunehmen, ja es durch sich selbst wie das eigene Blut fließen zu lassen,6)Dyakova, K. (2014), Rezension/literaturkritik.de  Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit. Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

so Ksenia Dyakova in ihrer Rezension „Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit“. Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew,  die im Dezember 2014 auf literturkritik.de erschienen ist.

Für Andreas Breitenstein ist der Roman (Rezensionsnotiz aus der NZZ vom 16.07.2013)

eine sprachmächtige, atmosphärische Meditation über Erinnern, Vergessen, Europa und sein Anderes, untermauert von Tiefenpsychologie und Geschichtsphilosophie und Mythologie und erfüllt von aufklärerischem Drang.7)Breitenstein, A. (2013), Rezension/NZZ (16.07.2013), Web. (zit. nach Rezensionsnotiz auf perlentaucher.de) [letzter Zugriff: 21.02.2015]

In der westlichen Geschichtsforschung legte der englische Historiker Orlando Figes mit Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland (2012) ein Werk vor, das dank niedergeschriebener Interviews die Erlebnisse von Überlebenden des stalinistischen Terrors vor dem Vergessen bewahrt. Gemeinsam mit Mitarbeitern der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial führte er in Moskau, St. Petersburg und Perm ein Großprojekt der oral history durch. In Die Flüsterer breitet sich vor den Augen des Lesers eine Innenansicht des Sowjetsystems aus: von den Kindern der Bolschewiken, die meinten, auf Wesensmerkmale familiärer Bindung – wie Schutz, Intimität, Vertrauen und Liebe – verzichten zu können, bis hin zur quälend langsamen Überwindung des allseitigen Schweigens. 1956, auf dem Höhepunkt des Gulag, soll es etwa eine Millionen Lagerwächter gegeben haben. Dem Terrorsystem konnte niemand ganz ausweichen, schon weil niemand, bis in höchste Parteiämter hinein, vor ihm sicher war. Figes stellt eine Gesellschaft vor, in der unter der Bevölkerung Gleichmut und Passivität die Norm waren, er erzählt von der Alltäglichkeit eines Jahrzehnte dauernden Ausnahmezustands. Es wird mehr als deutlich, welch quasi archäologische Arbeit der Historiker leisten musste, um all die Traumata zutage zu befördern, die in den Tiefen der Verdrängung und Versiegelung verborgen lagen, ähnlich der Nachforschungsarbeit, die der Ich-Erzähler im Roman leisten muss, um die die individuelle und kollektive Vergangenheit aufzudecken.

Um dies zu unterstreichen, kann man auch Carmen Ellers Rezension Gulag-Roman „Ich wollte mein Blut vergießen“ auf Spiegel online vom 06.05.2013 heranziehen:

Die Täter verbergen sich, die Zeitgenossen verdrängen den Terror: „Alle Erschießungen, alle Morde waren vergessen, eine gesamte Epoche war auf den Grund des Gedächtnisses hinabgesunken.“ Wie ein Bergmann der Sprache gräbt sich der junge Geologe in die Geschichte des „zweiten Großvaters“. Benutzt Worte wie Werkzeuge, um das kollektive Schweigen zu brechen.8)Ellers, C. (2013), Rezension/ Spiegel online Gulag-Roman „Ich wollte mein Blut vergießen“ (06.05.2013), Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

In seiner auf  Zeit Online am 14.08.2002 erschienenen Rezension lobt Jörg Barberowski Figes‘ meisterhafte Erzähltechnik und das kunstvolle Arrangement der Darstellung des

Alltag(s) in der Sowjetunion Josef Stalins, in dem Menschen unter dem Druck des Terrors als Individuen verschwunden und zu den titelgebenden „Flüsterern“ geworden seien. Aus dieser Welt erzeuge der britische Historiker Bilder und Stimmungen, die man nie wieder vergesse. Bringe Menschen zum Sprechen und rufe Lebensgeschichten aus dem Vergessen zurück, die beim Lesen ein Panorama der stalinistischen Zivilisation ergeben, wie es in dieser Form noch nie beschrieben worden sei.9)Barberowki, J. (2002), Rezension/Zeit online Leben in der Angst. (14.08.2002) Orlando Figes erzählt meisterhaft über den Alltag im stalinistischen Russland, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Immer wieder zeigt sich Baberowski von Einzeldarstellungen erschüttert und schockiert über die alles beherrschende Atmosphäre des Hasses, der Angst und des Fanatismus.

Jörg Barberowski selbst erhielt bei der Leipziger Buchmesse 2012  für Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt (2012)10)Barberowski, J. (2012), Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München. den Preis für die Kategorie Sachbuch/Essayistik. Er charakterisiert das stalinistische System als paranoid. In seiner Analyse kommt er u.a. zu dem Ergebnis, dass Gewalt im Stalinismus das normale Mittel der Politik  und der Ausnahmezustand der Normalzustand gewesen sei.  Gewalt sei für Stalin ein selbstverständlicher Bestandteil seines Lebens gewesen, d.h. die normale Vorgehensweise seines politischen Handelns, die keinerlei Rechtfertigung bedurft habe. Durch die in den Schauprozessen erzwungenen Geständnisse habe sich dieser paranoide Ausnahmezustand selbst bestätigt, daher sei auch keinerlei zivilisierter Rahmen mehr vorhanden gewesen. Es hätten keine klar abgrenzbaren Feinbilder mehr bestanden: reale Feinde, denkbare Feinde, wie sollte man sie unterscheiden?

In dem Beitrag Propaganda vom Sofa aus  aus der Zeitschrift Ostpol vom 07.11.2014 schreibt Lebedew, dass es wichtig sei zu verstehen,

dass die Beziehung zwischen Bürger und Staatsmacht in Russland für die Russen ein Trauma ist. Während Stalins Terrorherrschaft wurde in den 1930er-Jahren ein Loyalitätspakt zwischen der Gesellschaft und dem Staat gebrochen, der seit der Revolution von 1917 Bestand gehabt hatte. Von nun an galt: Du kannst deine Ergebenheit für die Sache der Partei beweisen, so viel zu willst, dennoch kann man dich jederzeit zum Feind erklären und erschießen lassen.11)Lebedew, S. (07.11.2014), Artikel/Ostpol Propaganda vom Sofa, Web.

In dem sehr aufschlussreichen am 28.04.2014 auf 3sat ausgestrahlten Interview. Peter Voß fragt  Jörg Barberowski: Verstehen wir Russland?  finden sich Erklärungen Barberowkis hinsichtlich des Funktionierens des stalinistischen Terrorsystems,  die m.E. einen nicht unbeträchtlichen Erkenntnisgewinn für das Verständnis von Der Himmel auf ihren Schultern bringen. Im Folgenden sei der Inhalt des Gesprächs diesbezüglich allerdings nur sehr oberflächlich angedeutet:

Der sowjetische Staat sei, so Barberowki in dem Interview, von Beginn an so schwach gewesen, dass seine Protagonisten für den Machterhalt auf Gewalt angewiesen gewesen sei. Eine der Bürgerkriegserfahrungen sei gewesen, dass man mit Gewalt Erfolg gehabt habe, und so sei die Gewaltausübung zu der alleinigen Machtressource geworden, die Anschlusszwänge erzeugt habe.

Wenn man einmal anfängt, die Gewalt sprechen zu lassen, dann verändert man eine Situation so, dass dann am Ende eine Dynamik entsteht, die man so nicht mehr so leicht unter Kontrolle hat. […] Wenn die Gewalt ausufert, und wenn sie sich gegen die eigene Bevölkerung richtet, wenn also die Wenigen die Vielen terrorisieren wollen, dann entsteht so etwas wie eine Belagerungsmentalität bei denjenigen, die Gewalt ausüben, die können dann nicht mehr zurück.12)Peter Voß fragt Jörg Barberowski (28.04.2014),  Interview – Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Gewalträume bräuchten allerdings für ihr Funktionieren Menschen, die sich darin bewegen könnten. Stalin sei ein Meister darin gewesen, mit Gewalt umzugehen „ein skrupelloser Psychopath und Sadist“, der seine Herrschaft auf Furcht und Schrecken aufbaute. Der Terror sei keine Folge des Systems, sondern allein durch Stalins Persönlichkeitsstruktur bedingt gewesen. Bei der Durchsicht der Akten aus dem Stalin-Archivbestand stellte Barberowski fest, dass […] die Täter […] nicht über Ziele [redeten], sondern über Gewalttechniken“„Sie rechtfertigten das voreinander nicht, sondern sie redeten darüber, als sei es das Normalste von der Welt.“13)Peter Voß fragt Jörg Barberowski (28.04.2014),  Interview – Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

In seiner Besprechung von Verbrannte Erde am 18.03.2012 im Deutschlandfunk, sagt Martin Edel, dass Stalin ein lustvoller Gewalttäter gewesen sei, der seines Zeichens einen proletarischen Männlichkeitskult nach sich gezogen habe. Der Terror sei die Feuertaufe des stalinistischen Funktionärs gewesen. Nach dem Beschluß des Politbüros des CK der VKP(b), 31. Juli 1937, und Einsatzbefehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten der UdSSR Nr. 00447 über die Repressivmaßnahmen gegen ehemalige Kulaken, Kriminelle und andere antisowjetische Elemente, 30. Juli 1937 sei das Töten nach Quote geschehen nach dem Motto „besser zu viel, als zu wenig“. Die monströse Vernichtungspolitik sei von Stalin selbst ausgegangen, einem „glücklichen Mensch, der sich an den Seelenqualen seiner Opfer erfreute“.14)Edel, M. (2012), Rezension im Deutschlandfunk (18.03.2012), Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

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Christine Ruis liest Passagen aus der deutschen Übersetzung

Für ihre ausdrucksstarke Lesung aus der deutschen Übersetzung des Romans hatte Christine Ruis zwei Textpassagen ausgewählt, die am Beispiel des Verhaltens des zweiten Großvaters m.E. gerade diese Persönlichkeitsstruktur der Täter veranschaulichen. Auszüge aus der Lesung seien hier nur andeutungsweise genannt:

Die erste Passage zeigt aus der kindlichen Perspektive des Ich-Erzählers auf, wie er den psychischen Machtmissbrauch durch den zweiten Großvater empfindet, hier symbolhaft in der Prozedur des Haareschneidens versinnbildlicht:

[…] das Haareschneiden erschien mir wie ein kleiner Tod […]. Man wollte mich „auf null“ bringen, wieder zum Säugling machen, das heißt, mir das Wenige nehmen, was gelebt hatte und in meiner Haarlänge sichtbar war […]. Zum zweiten Großvater passte dieser Vorschlag wie zu niemandem sonst: Läuse, Kerosin, Kahlscheren – das roch nach vergangenen Zeiten, nach kriegsbedingten Obdachlosen, nach Härte […] aber in mir reifte das Gefühl, dass es nicht nur ums Haareschneiden ging, dass der zweite Großvater beschlossen hatte – und das würde niemand verstehen! – mich in seine Macht zu bringen […]. Ich fühlte also, dass das Haareschneiden diesmal einen zweiten, zusätzlichen Sinn bekäme. Indem er mich von den Läusen befreite, wollte der zweite Großvater in Wirklichkeit Macht über mich gewinnen, und mein geschorener Kopf kam mir wie der haarlose Schädel eines Neugeborenen vor […]. Ich hatte mich davon überzeugt, dass der zweite Großvater mich zu dem machen wollte, was er selbst war – einen Gegenstand […]. Ich saß in der Falle und wagte nicht einmal, an Flucht zu denken.15)Lebedew, S. (2013), S. 42ff.

Die zweite Passage zeigt, wie der zweite Großvater sich während seiner Zeit als Lagerkommandant gegenüber seinem leiblichen Sohn verhalten hat. Er hatte einem Schnitzer unter den Häftlingen den Auftrag gegeben, für seinen Sohn als Geschenk ein Miniaturstraflager zu bauen:

Das Spielzeug ahmte in allem das echte Lager nach, und es fehlte nur eine Figur inmitten des Spielzeugs – die Figur des zweiten Großvaters […]. Er hatte seinem Sohn ein Spielzeuglager geschenkt, damit dieser am Schicksal seines Vaters teilhatte und sein eigenes aus dessen Händen empfing […]. Mit seiner Bestellung bei den Handwerkern hatte der zweite Großvater, ohne es zu merken, die Schraube überdreht. Zuvor war er Kommandant von Lagerleitern gewesen, kein besserer oder schlechterer in einer Zeit, dessen Antriebskraft eine gesichtslose Schreibtischgrausamkeit war.16)Ebd., S. 255ff.

Nachdem er seinem Sohn das Geschenk gegeben hat, zerstört dieser es und wird daraufhin von ihm in seinem Zimmer eingesperrt, mit dem Befehl, das Spielzeuglager wiederherzustellen:

Der zweite Großvater sah in seinem Sohn einen Verräter, er hätte sich von ihm losgesagt, wenn es so etwas schon gegeben hätte […]. Der zweite Großvater bestrafte den Jungen nicht – er zwang ihn, sich selbst abzuschwören. […] Das siebenjährige Kind sollte nicht nur sich selbst abschwören, es sollte sich jeden Tag verfluchen, erst dann würde der zweite Großvater ihn annehmen, zerstört und innerlich aufgeweicht; dann könnte er sich einen anderen Sohn modellieren.17)Ebd., S. 259.

Der Sohn kann sich aus seinem Gefängnis befreien und bringt sich in dem Steinbruch des Lagers um:

Der zweite Großvater sagte sich von seinem Sohn los – ein zweites Mal hatte der es gewagt, sich seinem Willen zu widersetzen […]. Für den zweiten Großvater war das zerstörte Spielzeugstraflager der Wahsinn eines Geisteskranken. Der zweite Großvater grenzte sich sofort von dem toten Jungen ab und kehrte in seinem Gedächtnis zu jenem gehorsamen, richtigen Sohn zurück, der er noch einige Monate zuvor gewesen war […] Er sprach mit dem anderen Kind, behielt das andere Kind im Gedächtnis, mit dem das Unumkehrbare noch nicht geschehen war. Dennoch verschaffte sich die schreckliche, herrschsüchtige Vaterschaft in ihm gegen seinen Willen Gehör: Der durch den Sturz zerstörte Körper des Jungen schien wie von starker Hand zerquetscht und zu Boden geworfen, und der zweite Großvater presste seine Fäuste so zusammen, dass man dachte, seine Hand sei es gewesen.18)Ebd., S. 262f.

In der sich der Lesung anschließenden Gesprächsrunde sagte Sergej Lebedew, dass in Russland eine Literatur der Wahrhaftigkeit (literatura pravdy) nötig sei, die des Künstlerischen nicht entbehren dürfe. Die bisherige Literatur ende damit, dass der Mensch überlebt habe, das, was nachher passiert sei, das, was er seinen Kindern überlassen habe, werde allerdings nicht thematisiert. Reaktionen auf die Veröffentlichung seines Romans seien z.B. gewesen: jetzt verstehe ich, wer der Cousin meiner Oma war, endlich habe man die Stärke der Persönlichkeit verstanden, die man bisher nicht habe einordnen können; jetzt hätten die Ängste endlich ein Gesicht und einen Namen bekommen. Innerhalb des stalinistischen Systems hätten die Menschen, so Lebedew, ihre animalischen Züge verwirklichen können, indem sie Macht über andere Menschen ausübten. Später hätten sie sich indessen leicht in nette Opas verwandeln können, die zur Kirche gehen, und dies mit dem Selbstverständnis, das Richtige getan zu haben, selbst wenn es ein Verbrechen gegen die Menschheit war. Die Möglichkeit der Verwandlung der Täter in einen netten Opa mache ihm Angst. Er könne sich nur schwerlich vorstellen, dass die Täter gemeint hätten, alle Insassen der Lager seien Verbrecher gewesen. Die Inhaftierten seien für sie nichts anderes als Material gewesen. Sein Buch sei ein Versuch zu zeigen, wie Erfahrung weitergeleitet wird. Es sei der erste Versuch auf diesem Gebiet, da das Thema bisher nur in  Schweigen gehüllt gewesen sei. Die Erwachsenen, die gewusst hätten, was hinter diesem Schweigen steht, hätten die Schweigesprache beherrscht. Für die Kinder hingegen seien dies verschlossene Territorien gewesen. Sein Buch stelle den Versuch dar, diese Territorien zu öffnen, um ihr Verstehen zu ermöglichen.
Auf die Frage nach der psychischen Verfasstheit der Täter antwortete Lebedew, dass sie verdächtig gesund seien, denn wenn man sie als psychisch nicht normal charakterisiere, könne man sich leicht von ihnen abgrenzen. Nichtnormales sei zu den Zeiten normal gewesen.

Fazit: Unbedingt lesenswert, inhaltlich beeindruckend und aufwühlend, stilistisch sehr anspruchsvoll!

 

Zum Stil des Romans seien an dieser Stelle nur einige Zitate aus zweien der weiter oben angeführten Rezensionen angeführt:

Lebedew wählt einen poetischen, zuweilen etwas metapherntrunkenen Weg – aber einen durchaus überzeugenden. Er betrachtet die Vergangenheit wie eine Versteinerung, sie ist stumm und beredt zugleich. Er geht wie ein Archäologe oder eben wie ein Geologe vor, der weiß, dass das zutage Geförderte etwas ist, das unser heutiges Sein und Bewusstsein prägt – wie weit es auch zurückliegen mag. „Ich sehe und erinnere mich. Und dieser Text ist wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer, wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer der Worte, die Tote und Lebende vereint“, schreibt Lebedew nicht ganz frei von Pathos. Aber es ist ein aufrüttelndes, literarisches Pathos, das einen eindrucksvollen Roman trägt.19)Rüdenauer, U. (2013), Rezension/SZ,  Im Bauch der Erde. (07.09.2013) Der junge russische Autor und Geologe Sergej Lebedew sucht in seinem Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ nach den Lagern des Stalisnismus, Web. (zit. nach Rezensionen auf bücher.de) [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Die wichtigsten künstlerischen Verfahren, auf denen der Romantext beruht, sind der Vergleich und die Metapher. Und solange das Erzählen um das Kollektivgedächtnis kreist, findet Lebedew schöne literarische Formen zur Erklärung von dessen Mechanismen.20)Dyakova, K. (2014), Rezension/literaturkritik.de  Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit. Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Genauso ist jede Figur im Buch eine verallgemeinerte Gestalt, die keine konkreten Züge trägt, sondern in deren Erscheinung die Züge der vorherigen Generationen zum Vorschein kommen. Kein Gesicht ist deutlich, kein Name ist genannt. Der Protagonist, der Erzähler, wird niemals im Roman beim Namen genannt; sein mit ihm nicht verwandter Großvater ist bloß ein zweiter Großvater. Etwas Namenähnliches hat nur ein Panzersoldat – „Onkel Wanja-Eisenhals“, aber es ist dabei klar, dass ein Name wie Onkel Wanja, auch von Tschechow abgesehen, universal (russischer Iwan) ist wie ein Name von jedem und niemandem.21)Dyakova, K. (2014), Rezension/literaturkritik.de  Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit. Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Lebedew schreibt auf eine meditative Weise: Von einer Assoziation zu einer Erinnerung enthüllen sich die Bedeutungen von Bildern; der ihnen zugrunde liegende Sinn wird erläutert, ihre Symbolik wird erklärt. Die Folge davon ist das im Ganzen ziemlich langsame Erzähltempo. Eine solche Schreibweise ist poetisch und atmosphärisch zugleich, jedoch ist diese Meditation in keinem Augenblick positiv, ganz im Gegenteil – es scheint, dass kein anderes Wort auf den Seiten des Buches so oft vorkommt wie der Tod. Die Menge der Beschreibungen und Assoziationen ist absichtlich ‚anatomisch‘, und genau das ist die Anatomie des Todes – die Verwesung, der Modergeruch, der Prozess der langsamen, qualvollen Zersetzung. Es scheint, als wäre der den Leser ständig erfüllende Wunsch, sich von der Omnipräsenz des Todes zu distanzieren, auch ein Teil der Autorintention: Auf diese Weise soll die emotionale Schwierigkeit beim Durchschreiten des gewählten Weges demonstriert werden, auf dem ein Mensch gleichsam zum Augenzeugen von Verbrechen der Vergangenheit wird.22)Dyakova, K. (2014), Rezension/literaturkritik.de  Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit. Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Die Schreibweise Lebedews ist der ständige Bewusstseinsstrom, während seine verbalen Bilder der abstrakten Malerei am nächsten sind. Typisch für beide ist das ‚geologische‘ Verfahren, sich den Raum durch den Prozess der Beschreibung anzueignen. In diesem Sinne wird der geeignete Raum mit den Gefühlen und Assoziationen des Erzählers zusammengeführt, so dass die Außenwelt der persönlichen Ansicht und den individuellen Kontexten unterworfen wird.23)Dyakova, K. (2014), Rezension/literaturkritik.de  Ein langer Weg der Befreiung von der Vergangenheit. Der Roman „Der Himmel auf Ihren Schultern“ von Sergej Lebedew, Web. [letzter Zugriff: 21.02.2015]

Aktuelle journalistische Artikel von Sergej Lebedew in ostpol – Das Osteuropamagazin.